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CLARA TIEFENTHALER
Art ⋅ Illustration ⋅ Grafik Design

Die Geschichte vom Baumgeist und dem Windgeist

Baumgeist und Windgeist
Der Baumgeist und der Windgeist

Wie so der Wind über die Baumwipfel eines kleines Wäldchens pfiff, konnte man hören, wie die Bäume knarrten und knacksten und ihre Blätter rauschten, was ja nichts Außergewöhnliches war. Aber wer mit dem Herzen lauschte, konnte verstehen, was sie sich zuknarrten und zurauschten, diese Bäume.

Meistens ging es um die Windgeister, die viel zu verspielt, zu überheblich und zu freimütig waren, so befanden die Baumgeister, die viel bodenständiger, ruhiger und erwachsener waren. Sie betrachteten die kindliche Verspieltheit und die Unberechenbarkeit der Windgeister mit Widerwillen.

Umgekehrt kicherten die Windgeister gerne recht frech über die Baumgeister, die so unflexibel und langweilig immer auf dem selben Fleckchen Erde standen und sich mit ihren Wurzeln so sehr an ihr festklammerten, als könne sie ihnen davonwehen, wenn sie nur einmal ihre Wurzeln einzögen.

Eines Tages ließ sich ein nach Luft japsender, etwas schmutziger Windgeist völlig erschöpft in den starken Ästen einer großen Buche nieder. Der Baumgeist war überrascht über den unerwarteten Gast, duldete ihn aber großmütig, denn dieser erweckte beinahe sein Mitgefühl durch seine jämmerliche Erscheinung.

„Ich komme direkt aus einer großen Stadt hierher geweht“, wisperte der Windgeist nach einiger Zeit und atmete tief den klaren Duft des Waldes ein. „Schrecklich schmutzig war die Luft da. Das hat mir beinahe das Bewusstsein geraubt!“

Der Baumgeist dachte nur, wie unvernünftig es doch war, in eine Stadt zu wehen. „Du solltest dir besser ein schönes Plätzchen suchen und dort in Frieden den Rest deines Lebens genießen, anstatt so heimatlos herumzuwandern“, sagte der Baumgeist. Wenn du nicht so fernsüchtig wärest, dann würde es dir auch besser ergehen, fügte er in Gedanken dazu.

„Ach“, meinte der Windgeist und richtete sich auf, „ihr Baumgeister seid doch alle so unflexibel. Starr steht ihr den ganzen Tag am selben Ort und seht immer nur dieselbe Umgebung. Ihr habt keine Ahnung von den Weiten der Welt. Ihr solltet dringend einmal etwas frischen Wind in euer Leben bringen!“ Sein Blick ging in die Ferne, „Noch nie seid ihr über das Meer getanzt oder habt in den Wüstensand gepustet. Ihr habt noch nie zwischen den Felsen kahler Berggipfel gesungen oder den Menschen unter den Türen durchgepfiffen.“ Jetzt sah der Windgeist schon wieder viel gesünder aus, begeistert von seinen eigenen Erlebnissen. „Du musst ja ein schrecklich langweiliges Leben führen, wenn du nie auch nur einen Zentimeter von deinem Platz weichst“, meinte der Windgeist und dachte, der Baumgeist sei doch nun wirklich dumm, sich dies alles aus Starrsinnigkeit entgehen zu lassen.

„Das ist wohl wahr“, meinte der Baumgeist nachdenklich, „das alles, wovon du sprichst, habe ich nie erlebt.“ Tatsächlich fühlte er ein leises Bedauern in sich, dies alles nie gesehen zu haben.

Dann aber besann er sich und rief sich ins Bewusstsein, wie schön es doch jeden Tag war, genau hier zu stehen und die Pflanzen und Tiere um sich zu beobachten.

„Ich bin noch nie über das Meer getanzt oder habe in den Wüstensand gepustet. Ich habe noch nie zwischen den Felsen kahler Berggipfel gesungen oder den Menschen unter den Türen durchgepfiffen. Ich war auch noch nie in einer Stadt,“ sagte der Baumgeist und konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, „aber ich genieße es, Tag für Tag hier zu stehen, stets die beste Luft zu haben, im Frühling die schönsten Blüten zu tragen, den verschiedensten Vögeln ein Zuhause zu sein, den Pflanzen um mich herum beim Wachsen zuzusehen, den Ameisen in ihrem Fleiß und den jungen Füchslein beim Jagen lernen zuzusehen…“ Noch viele, viele schöne Dinge hätte der Baumgeist aufzuzählen. Aber wie könnte der Windgeist solche Freuden des Lebens verstehen? Er war doch viel zu ungeduldig um solchen Dinge überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken.

„Außerdem ist es schön, tiefe Wurzeln zu haben und die Erde richtig zu spüren. Da unten gibt es auch Leben, aber das könnt ihr Windgeister ja nicht wissen. Und genauso schön ist es, hoch hinauf zu wachsen und mit allen Blättern die Sonnenstrahlen aufzunehmen“, schwärmte der Baumgeist.

„Wir Baumgeister leben ein völlig natürliches Leben. Wir sind fest mit der Erde verbunden und haben doch unseren Kopf in der Luft. Wir sind so flexibel wie unsere Wurzeln und unsere Beschaffenheit es erlaubt. Ich bin sicher, wir führen ein Leben, wie Gott es für uns bestimmt hat.“

Der Windgeist dachte über diese Worte nach. „Du hast Recht“, rief er plötzlich, „Ich habe noch nie die Ameisen betrachtet, die über deine Rinde krabbeln. Und was für starke Tierchen sie sind! Was für Lasten sie tragen!“

Man konnte in dem Moment nicht sagen, wer erstaunter war; der Windgeist über die faszinierenden Ameisen, denen er noch nie zuvor Beachtung geschenkt hatte, oder der Baumgeist über die Begeisterung des Windgeistes.

Bald begriffen sie alle beide, dass es genug Wunderbares gab, was sie beide genießen könnten. Und vor allem begriffen sie jeder für sich im Stillen, dass sie einander brauchten.

Die Windgeister sind es, kam es der Buche, die mir sanft durch die Zweige streichen, durch deren Hilfe ich sogar tanzen kann, die mir im Frühling die Düfte herantragen und die Bienen bringen, mich im Sommer vom Regen trocknen, und mir im Herbst die Blätter abnehmen.

Auch dem Windgeist wurde klar, als er sich wieder vollkommen erholt hatte und sein Gewand wieder rein war, wie notwendig für ihn die Baumgeister sind, die schlechte Stadtluft in frische klare Waldluft umwandeln konnten.

„Zeit für mich zu gehen“, sagte der Windgeist… und weg war er.

Genauso überraschend wie am ersten Tag, erschien der Windgeist nach einer Woche wieder vor der Buche und ließ sich zögerlich in deren Ästen nieder.

„Sag mir, Baumgeist, du wirktest so zufrieden und so glücklich, als du mir erzähltest, wie du lebst. Ich habe erlebt, wie schön es sein kann, den Ameisen zuzusehen. Bist du denn tatsächlich glücklich?“

Der Baumgeist lachte. „Natürlich bin ich glücklich! Ich liebe es, stetig hier zu stehen und die kleinen Veränderungen der Erde zu beobachten. Weißt du, es sind nämlich die kleinen Dinge, die das Leben ausmachen.“

Da sagte der Windgeist lange nichts mehr.

Der Baumgeist dachte aber über das Leben des Windgeistes nach und erinnerte sich an das leise Bedauern, das er gefühlt hatte, als ihm jener über seine Erfahrungen erzählt hatte. Und er fragte sich, ob die Windgeister womöglich doch Recht hatten, wenn sie sagten, dass die Baumgeister zu unflexibel und zu bodenständig waren. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als er sich all die Landschaften vorstellte, die er aus Erzählungen der Windgeister kannte, jedoch nie mit eigenen Astlöchern gesehen hatte. Langsam, sehr langsam und behutsam, damit es besonders der Windgeist nicht merkte, begann er seine Wurzeln einzuziehen, um flexibler zu werden.

„Du sagtest mir, ihr Baumgeister lebet ein völlig natürliches Leben, das von Gott so bestimmt sei“, sagte der Windgeist. „Ich glaube dir.“

Er sprang von den Ästen der Buche und stellte sich neben diese auf den Waldboden. „Ich will auch ein natürliches und von Gott bestimmtes Leben leben.“

Der Windgeist fuhr mit seinen Windböen tief in die Erde und ließ sich Wurzeln wachsen. Als nächstes wuchs er in stürmischem Tempo hoch empor, einem dicken Baumstamm gleich, und breitete dann seine Äste aus. Es war ein Sausen und Brausen, ein Stürmen und wehen, das den ganzen kleinen Wald erbeben ließ.

Als der Windgeist drängende Rufe hörte, er solle damit aufhören und zur Ruhe kam, erblickte er sein Werk. Alle Baum- und Windgeister, die eben noch in Not gerufen hatten, verstummten. Und der Windgeist erstarrte. Er stand in einem tiefen Erdloch. Viele dicke und dünne Äste von umstehenden Bäumen lagen rundherum auf dem Boden verstreut. Manch dünnes Bäumchen war gar geknickt von der Heftigkeit seines Wehens. Vogelnester mit zerbrochenen Eiern lagen darnieder und die Tiere hatten Reißaus genommen. Was den Windgeist aber in tiefstem Herzen traf, war ein einzelner mächtiger Baum, der niedergestreckt und vollständig entwurzelt zwischen den anderen Bäumen im Drecke lag. Es war die Buche.

Viele Tage kam der Windgeist immer wieder zu der entwurzelten Buche, setzte sich daneben und trauerte. „Ich wollte so sein wie du“, murmelte er trocken. Die anderen Bäume schwiegen taktvoll. Zudem berührte es die Baumgeister doch, dass ausgerechnet ein Windgeist so tiefe Gefühle für einen Baumgeist hegen konnte, die ihn dazu bewegten, jeden Tag herzukommen. Es war schließlich bereits außergewöhnlich, überhaupt ein und denselben Windgeist zweimal zu Gesicht zu bekommen, da diese reiselustigen Wesen nie lange an einem Ort blieben.

Wie der Windgeist über das Geschehene nachdachte, und er die Bäume und ihr Leben betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er nie so leben würde können wie sie. Er war und blieb ein Windgeist. Und Windgeister, wurde ihm klar, waren dazu geschaffen, durch die Lande zu streifen, über das Meer zu tanzen, in den Wüstensand zu pusten und zwischen den Felsen kahler Berggipfel zu singen und den Menschen unter den Türen durchzupfeifen. So hatte es Gott für sie bestimmt.

„Ich bin und bleibe ein Windgeist“, sagte er sich fest. Die Bäume um ihn herum nickten schweigend.

„Und du, liebe Buche, warst ein Baum“, er seufzte tief. „Du hättest deine Wurzeln nie einziehen dürfen. Ich habe das wohl bemerkt.“

„Dabei mochte ich dich genau so wie du warst. Ein Baumgeist. Eine Buche.“ Dann nahm er Abschied.

Eines schönen Frühlingstages, als er wieder einmal kam, entdeckte er im moosüberwachsenen Stamm der gefallenen Buche ein neues Pflänzchen. Es würde einmal eine ebenso prachtvolle Buche werden, wie jene es gewesen war, aus der es erwuchs. Dem Windgeist kamen Freudentränen, als er es entdeckte. Sogleich kniete er sich vorsichtig davor nieder und schloss Freundschaft mit ihm.

„Mein kleiner Baumgeist, noch bist du jung und ich will dir sagen, was das Wichtigste für dich ist: Du sollst tiefe Wurzeln schlagen und hoch hinaus wachsen. Du sollst es genieße, Tag für Tag hier zu stehen, stets die beste Luft zu haben, im Frühling die schönsten Blüten zu tragen, den verschiedensten Vögeln ein Zuhause zu sein, den Pflanzen um dich herum beim Wachsen zuzusehen und den Ameisen in ihrem Fleiß und den jungen Füchslein beim Jagen lernen zusehen. Denn so hat Gott es für dich bestimmt.“

„Das will ich alles beherzigen“, sagte der kleine Baumgeist und schenkte seinem Freund ein aufrichtiges Lächeln.

„Und willst du auch beherzigen, dass ich dich genau so, wie du bist, gern habe? Du bist ein wunderbarer Baumgeist! Und wir Windgeister brauchen nämlich wunderbare Baumgeister. “ Der Windgeist zwinkerte ihm zu.

„Natürlich“, lachte der kleine Baumgeist, glücklich, einen so weisen Freund zu haben.

Der Windgeist wehte schnell hinweg, um seine Tränen zu verbergen. Nie zuvor hatte er einen Ort so oft besucht wie diesen. Und nie zuvor hatte er einen Baumgeist seinen Freund genannt.

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